Was heißt "Self-Care" auf Kenianisch?
- Jana Winterhalter

- vor 4 Stunden
- 6 Min. Lesezeit
Über Selbstfürsorge im ländlichen Kenia

Es gibt da etwas, was mir mehr und mehr auffällt in meinem Leben zwischen deutscher und kenianischer Kultur, wovon ich euch gerne erzählen möchte.
Selbstfürsorge ist ein Thema, das eine große Rolle spielt in meinem Leben. Mit einem hochsensiblen Körper und Nervensystem ausgestattet und gleichzeitig immer voller Ideen und Projekte, die nicht immer so ganz einem bestehenden Konzept folgen oder in eine Norm passen möchten, habe ich sehr früh in meinem Leben Wege etabliert, in meinem Alltag kleine oder große Räume für mich, meine innere Ruhe und meine Gesundheit einzuräumen. Meditation, Yoga, erdverbundene Tätigkeiten und Musik sind z.B. Teil meines persönlichen"Self-Care"- Rezeptes, für das ich am liebsten niemanden als mich selbst bei mir habe.
Und natürlich bin ich nicht die einzige. Seit vielen Jahren hat auch im fleißigen, pflichtbewussten Deutschland die "Self-Care" Bewegung mehr an Gehör bekommen. Sich Zeit nehmen "nur für sich" oder sich auch mal "um sich kümmern", die richtige "Work-Life-Balance" finden — all das wird mehr und mehr wichtig und selbstverständlich für viele. Während die meisten meiner europäischen Freunde und Bekannte sich vermehrt auf Retreats tummeln, Yoga odere andere Aktivitäten für sich entdecken und ihre eigenen Wege ersuchen, vermehrt "gesunde Grenzen" zu setzen, frage ich mich mehr und mehr: Wie geht Self-Care eigentlich auf Kenianisch?
Wie geht Self-Care auf Kenianisch?
Ich möchte hier gezielt von meinen Erfahrungen im ländlichen Dorfleben in und um Kandongu schreiben. Im metropolitanen, multi-kulti Nairobi sieht die Realität natürlich weitaus anders aus.
Was bedeutet sie nun also, die Self-Care, wie wir sie im "globalen Norden" etablieren, wenden wir sie auf ein kenianisches Dorfleben an? Kurz gesagt: Sie existiert nicht. Nicht in dem Sinne, wie wir sie verstehen oder praktizieren würden. Es gibt keine Sport- oder Musikvereine, in denen man sich zum Ausgleich zum Alltag trifft. Es gibt kein Café, das zum gemütlichen Verweilen einlädt. Ich kenne nur 1 Person, die regelmäßig ein Buch zur Hand nimmt, um sich lesend ein bisschen "Me-Time" zu gönnen.
Die passende Hängematte dazu hat sie von mir geschenkt bekommen, denn auch solch ein Utensil, das rein zum Ausspannen und Nichtstun dient, kennt man hier nicht.
Noch nie habe ich hier einen ausgeschilderten Spazier-, Wander- oder Fahrradweg gesehen. Es gibt keine "Parks", die zur Entspannung im Grünen angelegt wurden, keine Parkbank, keinen angelegten Badesee.
Nun — ist das Leben der Menschen hier dann trist, arbeitsreich und frei von Erholung und Freizeit?
Um fair zu bleiben: Natürlich nicht. Auch wenn "Burnout", "Stress" und "Ausgelaugtheit" hier im Vergleich zu meinen Beobachtungen in Deutschland nur zu einem Bruchteil vorkommen — die Arbeits- und Erfolgsmoralen weichen doch deutlich voneinander ab — selbstverständlich gibt es dennoch Praktiken von Erholung und Ausgleich. Nur sieht hier diese "Self-Care" erstens ganz anders aus und zweitens würde sie hier bestimmt niemand als solche bezeichnen.
Freizeit-Momente aus dem Leben eines Kenianers
Ich möchte gerne ein paar Beispiele aus meinem direkten Umfeld mit euch teilen:
Da wäre Brother Francis, Direktor unseres Schulprojekts und langjähriger Freund. Wenn er einmal richtig "relaxen" will, geht er mit den Kindern der Schule, die er "seine Kinder" nennt, Fußball oder Volleyball spielen oder formiert Gesprächsrunden, in denen sich z.B "seine Mädchen" mit ihm ganz frei über sensitive Themen austauschen können. "Wenn ich ohne meine Kinder bin, werde ich krank.", sagt er so oft. In den Ferien, wenn sie nicht da sind, holt er vielleicht etwas Schlaf nach, ansonsten nutzt er die Zeit jedoch, sich in verschiedenen sozialen Gruppen und Projekten, meist als Vorstand, zu engagieren. Diese Gruppen haben dutzende oder hunderte Mitglieder und das Hauptziel, sich gegenseitig in schwierigen Situationen — sei es bei Krankheit oder Tod in der Familie — finanziell zu unterstützen. So gibt es immer irgendein "Harambee", also ein "Fundraising" zu organisieren und zu leiten.
Dann wäre da Coletta, mit der ich lebe und die mir im Haus und mit dem Aufbau unserer Farm unter die Arme greift. Sie weigert sich, freie Tage in der Woche zu haben, denn sie weiß ja gar nicht, was sie dann mit sich anfangen soll. Also kocht sie eben doch, wenn sie Sonntags nach der Kirche heimkommt. Freie Minuten am Tag füllt sie mit Anrufen, jedes Familienmitglied wird im besten Fall einmal pro Tag gesprochen. Hat sie mehrere Tage Urlaub, dann ist für sie klar: Sie füllt ihn mit Zeit mit ihrer Familie. So fährt sie zum Beispiel ihre Nichte besuchen, ihre Tochter und Enkeltochter kommen auch noch vorbei, und so verbringen 4 Erwachsene und 5 Kinder ein Wochenende in einer 1-Zimmer Wohnung, die Betten werden sich geteilt, oft zu dritt in einem. Sie liebt das. Egal wie eng, egal wie "unkomfortabel", nach etwas Zeit mit ihrer Familie ist sie wie neugeboren.
Alle "Mamas" unserer Community lieben Sonntage. Zur Kirche zu gehen, danach Zeit in den verschiedenen Frauengruppen zu verbringen, verschiedene Trips zu Hochzeiten oder Beerdigungen zu planen von Menschen, die sie meisten nicht einmal persönlich kennen, danach Hausbesuche mit Gebetskreisen — das ist ihre Art, sich von einer arbeitssamen Woche zu Hause zu erholen.
Und die Männer? Auch sie treffen sich in Männergruppen, manchmal kirchlicher, zumeist aber kultureller Natur, in denen die Traditionen des Stammes bewahrt, besprochen und am Leben erhalten werden sollen. Viel Essen und Bier gehören jedoch auch zu solchen "Männer only" Versammlungen.
Community-Care als Self-Care
Verstehen wir "Self-Care" also im Sinne von Selbstfürsorge, als Zeit mit sich und für sich, dann muss ich sagen: das gibt es hier nicht, oder sehr wenig. Selbstfürsorge hat kulturell nichts mit Konsum à la "Ich gönne mir etwas für mich" oder "für meinen Körper" zu tun. Und es hat ALLES mit Gemeinschaft zu tun.
Self-Care und Community-Care sind hier Eins. Das eigene Wohl steht grundsätzlich nie, oder nur in Ausnahmefällen, über dem Wohl der Gemeinschaft.
Das heißt nicht, dass es nicht auch Menschen gibt, die "nur an sich denken". Doch ein Sich-Enthalten aus dem Netz der gemeinschaftlichen Fürsorge, muss man sich durchaus leisten können, nur wenige wollen und noch weniger tun das.
Und so wird mir immer wieder vor Augen geführt: Das für uns so selbstverständliche Phänomen von "sich um sich selbst kümmern" ist ein privilegiertes Konzept. Eine Idee, die wir anscheinend brauchen, um wieder eine gesunde Verbindung mit uns selbst spüren zu können, in einem Leben, das wir doch zu allermeist aus eigener Kraft stemmen. Hier in meinem Dorf in Kenia ist das unwichtig.
Es geht immer allein darum, die eigene Posittion in der Community zu pflegen und zu stärken und damit die Gemeinschaft selbst — sodass das Gefühl von Miteinander besteht, das den Herausforderungsen des Lebens die Last nimmt.
Welches Konzept ist besser?

Das weiß ich nicht. Und darum geht es, wie ich finde, auch nicht. Ich persönlich brauche Ruheoasen "nur mit mir" durchaus regelmäßig, habe aber mein Bedürfnis an Gemeinschaftszugehörigkeit seitdem ich hier lebe deutlich nach oben geschraubt. Manchmal kann ich nicht anders, als mir einen Auflug nach Nairobi für eine gute Massage oder einen guten Kaffee zu gönnen, doch gleichzeitig wird das Verlangen danach immer weniger und die Erfüllung von Community-Care immer spürbar wichtiger für meine Selbstfürsorge.
Zu Besuch in Deutschland frage ich mich oft: ist es wirklich die Self-Care, die wir brauchen, oder nutzen wir sie um eine innere Leere zu füllen, die aus unzureichender Erfahrung von Community entsteht? Kaufen wir uns glücklich, wenn wir uns einsam fühlen?
Ich bin dankbar, diese Art von Care-Concept erleben und miterleben zu können, bevor auch hier der Wandel in Richtung mehr Individualismus Einzug hält. In den Städten geht die Gemeinschafts-Care schon zusehens verloren, Menschen in Angestelltenverhältnissen mit eigenen Wohnungen können sich es hier wie auch dort leisten, sich mehr um sich als um eine Gemeinschaft zu kümmern und an die eigene Unabhängigkeit von einem starken sozialen Netzwerk zu glauben.
Deine Adventszeit: Wie viel Community-Care gehört für dich dazu?
Für die beginnende Adventszeit wünsche ich dir natürlich, dass deine Selbstfürsorge nicht zu kurz kommt. Dass du dir ruhige Momente und Wohlfühloasen schaffst, die dein Körper, Geist und deine Seele nach einem turbulenten Jahr vielleicht brauchen.
Und: ich wünsche dir, dass du "Community-Care" als wichtigen Kern deiner Selbstfürsorge erlebst. Dass du die heilende und erfüllende — wenn auch nicht immer entspannende — Wirkung von Zugehörigkeit erleben darfst. Vielleicht geht es dieses Mal im Jahreswechsel gar nicht so sehr darum, sich zu viel Kopf über unser Selbst, die Selbsterkennung und -optimierung zu machen, sondern um das Bewusstmachen darüber, welche Wichtigkeit wir für die Gemeinschaft um uns herum haben, oder haben könnten.
Ich wünsche dir erfüllende Momente der Selbstfürsorge, wie auch immer sie für dich aussieht!
Danke, dass du Teil von Njoki bist, mich begleitest du diese Gemeinschaft damit mit trägst und pflegst!
Alles Liebe aus Kenia!
Jana
PS: Bald schon schreibe ich dir mit dem Newsletter zum Jahresende, da erfährst du alles Aktuelle aus den Projekten!






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